Als Obmann der Vinzenzgemeinschaft Heiliger Lazarus habe ich die Ehre, das erste Wiener VinziDorf in der Boergasse 7 in Wien Hetzendorf vorzustehen. Der Weg, welcher zur feierlichen Eröffnung am 15. November 2018 führte war lang, steinig und teilweise mehr oder weniger aussichtslos. Die unermüdliche Begeisterung von Pfarrer Wolfgang Pucher, dem Grazer „Armenpfarrer“ und Gründer der Vinzenzgemeinschaft Eggenberg – Vinziwerke in Österreich machte es jedoch möglich, 16 Jahre nach der erstmaligen Überlegung, auch in Wien ein Dorf für jene zu schaffen, die ansonsten in keiner Einrichtung einen Platz gefunden haben.
von Ulrich Wanderer (MJ 1989)
Das VinziDorf bietet 24 ehemals Obdachlosen, größtenteils alkoholkranken Männern, ein neues Zuhause, ohne ihnen über das notwendige Maß hinaus Vorschriften zu machen. Gerade diese „Konzeptlosigkeit“ (O-Ton Wolfgang Pucher) ermöglicht auch den niederschwelligen Zugang zum einzelnen Bewohner. Nicht die Leitung, nicht der Trägerverein oder das Dorf sind das Konzept, vielmehr der einzelne Mensch mit seinen Bedürfnissen. Ein ausgezeichnetes Beispiel hierfür stellt unser Freund und Bewohner der ersten Stunde Josef B. (Joschi) dar. Hatte er zuvor jahrelang im Umfeld des Meidlinger Bahnhofs auf der Straße oder auch im nahegelegenen Schedifkapark übernachtet, so findet man ihn seit Anfang Dezember 2018 im Modul Nummer 13 wieder. Ein Treffen mit Joschi tut gut, eine jede Unterhaltung erschließt eine interessante Welt. So schildert er seine Jahre auf der Straße ohne Groll, dennoch mit dem Hinweis, dass der starke Alkoholkonsum damals notwendig gewesen wäre, um den Alltag zwischen Bahnhof und Park zu überstehen. Heute würde er zwar schon noch trinken, aber primär den dorfeigenen Kaffee und das eine oder andere Bier im Laufe des Abends. Die tägliche Flasche Rum gehört der Vergangenheit an, er braucht sie schlicht nicht mehr. Auf sein neues Zuhause angesprochen meint unser Freund immer wieder mit einem breiten Grinsen und einem ebensolchen steirischen Dialekt: „Da tragt´s mi nur tot wieder ausse, ich bin da so glücklich!“
Zur Entstehung des Dorfes
Da der Bau ausschließlich mit Spendengeldern finanziert wurde, war es bereits im Rahmen der Planung durch das Architekturbüro gaupenraub +/- und in weiterer Folge deren Umsetzung unabdingbar, die gespendeten Mittel effizient und im Sinne der Unterstützer einzusetzen. Parallel dazu wurde aber in Hinblick auf die Nachhaltigkeit und die Lebensqualität der zukünftigen Bewohner auch auf eine entsprechende Qualität und Ästhetik geachtet, um den Bewohnern für die Zukunft eine angenehme Atmosphäre zu bieten. Schließlich gilt im VinziDorf Wien das Motto: „Würde ist kein Konjunktiv“.
Der Ist-Zustand
Die mit circa 3.700 Quadratmetern verhältnismäßig große Fläche erlaubt es, baulich auf die Bedürfnisse der Bewohner einzugehen. Von der Gesamtfläche sind rund 900 m² bebaut und 2.800 m² Gartenanlage. Insgesamt stehen im Dorf Einzelwohneinheiten für 24 Personen zur Verfügung. Jedem der 24 Bewohner steht in seiner Wohneinheit mit Bett, Schrank, Tisch, Waschbecken und Toilette eine private Rückzugsmöglichkeit zur Verfügung. In den 8 Wohneinheiten im Haupthaus befinden sich darüber hinaus auch noch Duschen in jedem Zimmer. Eine wichtige Rolle im Gemeinschaftsleben spielt dabei das dorfeigene „Gasthaus“. Frei nach dem Motto: Ein jedes Dorf braucht sein Gasthaus wurde der Speisesaal bzw. Aufenthaltsraum der Bewohner schlicht entsprechend benannt und bietet nun den Bewohnern einen sozialen und gesellschaftlichen Mittelpunkt im VinziDorf.
Dank an unsere Freiwilligen
Während die Bewohner sozialarbeiterisch von einer hauptamtlichen Leitung und deren Stellvertretung begleitet werden, wäre die darüber hinaus gehende Arbeit hinsichtlich Küche, Wäsche und der tagtäglichen Kleinigkeiten des Lebens bis hin zu den täglichen bzw. nächtlichen Nachtdiensten ohne die engagierten freiwilligen Helfer nicht zu bewältigen. Mit bewundernswertem Engagement unterstützen aktuell (Stand 22.2.19) ca. 80 Freiwillige das VinziDorf und seine Bewohner. Die Suche nach Freiwilligen ist nach wie vor eine der Kernaufgaben der Leitung, wie auch des Vereinsvorstandes, um den reibungslosen Ablauf langfristig auch gewährleisten zu können.
Unsere Nachbarn
Gerne würde ich betonen, dass die Chemie zur Nachbarschaft von Anfang an perfekt war, doch wäre dies ohnehin unglaubwürdig. Teilweise gab es massive Einwände, die jedoch zum absoluten Großteil nicht nur verstummten, sondern sogar zur wichtigen Unterstützung mutierten. Bei regelmäßigen Unterhaltungen in benachbarten Geschäften oder Gastwirtschaften erkundige ich mich auch gerne (auch in meiner beruflichen Eigenschaft als Mediator) immer wieder über die Stimmung im Grätzl betreffend unseres Dorfes. Immer noch spüre ich manchmal Skepsis, doch erfreulicherweise können kaum negative Beispiele genannt werden. Tauchen Probleme auf, so ist Troubleshooting angesagt. Je unmittelbarer die Antwort auf die Fragen der Anrainer ist, umso besser die Response, umso stärker auch die zukünftige Bindung an das Dorf. Unsere wichtigsten freiwilligen Helfer stammen mittlerweise aus der unmittelbaren Nachbarschaft des VinziDorfes.
Mein höchstpersönlicher Zugang zum Thema Obdachlosigkeit
Ich darf mich mehr oder weniger täglich beim Glück bedanken, denn es begleitet mich seit Jahr und Tag. Nicht, dass ich es immer sofort als solches erkannt hätte, doch war es immer da. Ich habe mir nie große Sorgen bezüglich des Daches über dem Kopf machen müssen und kann meine Miete pünktlich überweisen. Nein, ich kannte das Thema der Obdachlosigkeit bis zum Herbst 2017 nur vom Wegsehen. Dies änderte sich durch eine an Absurdität kaum zu überbietende Freundschaft. Das fast tägliche Lauftraining führt meine Frau und mich immer wieder über eine bestimmte Brücke über den Donaukanal, wo wir eben im Herbst 2017 einen Obdachlosen kennenlernen durften. Jonny fiel uns insbesondere durch seine gute Laune auf. Gute Laune bereits um 5 Uhr in der Früh, gute Laune bei Regen und Nebel, in dunkler Nacht ebenso wie bei Sonne. Seine wundervolle Naivität tat gut, sein Wesen wärmt bei aller gesellschaftlichen Kälte. Er inspirierte mich zum einen oder anderen Gedicht, welche ich in weiterer Folge dann in meinem Buch „Humanismus ist nicht heilbar“ veröffentlichte. Nachdem die Projektleiterin des VinziDorfes Wien mich im August 2018 in Folge einer Lesung aus meinen Büchern kontaktierte und fragte, ob ich mir denn vorstellen könnte, mich als Obmann des 1. Wiener VinziDorfes zu engagieren, war die Überraschung zuerst freilich groß. Wenige Tage überlegte ich, ob ich der Richtige für dieses Ehrenamt wäre, doch machte mich ein Blick in meine eigenen Texte schnell sicher. Wie könnte ich einerseits eine Freundschaft zu einem Obdachlosen besingen und mich dann davor drücken, mich in seinem Sinne einzubringen?
Darüber hinaus gab es ein persönliches Gespräch mit „Armenpfarrer“ Wolfgang Pucher. Ihm einen Wunsch abzuschlagen, ihm zu widersprechen ist kaum…, nein ist eigentlich nicht möglich. So hatte ich die Ehre am 15. November 2018 als Obmann das VinziDorf Wien zu eröffnen.
Alltag im Dorf
Viel hat sich seit damals getan. Bereits in den ersten Wochen konnten wir 14 ehemaligen Obdachlosen neue Heimat bieten. Mit jedem Besuch im Dorf darf ich mich persönlich von den Fortschritten unserer Freunde überzeugen. Groß war meine Freude zuletzt, als ich den Rollator eines unserer ersten Bewohner vermisste und von ihm zur Antwort bekam: „Den brauch I jetzt nimma im Haus, mir tut weniger weh!“. Andere wiederum kommen im Dorf zur Ruhe, finden neue Freunde und entwickeln erfreuliche soziale Fähigkeiten und bilden eine Dorfgemeinschaft.
Noch sind jedoch die Aufgaben nicht erfüllt, viel ist noch zu tun. Nach und nach werden in den kommenden Wochen auch die restlichen Zimmer bzw. Gartenmodule bezogen werden, wöchentlich melden sich neue Freiwillige, um die gute Sache mit Zeit- aber auch Sachspenden zu unterstützen.
Die Suche nach Förderern, welche sich auch finanziell am Gelingen des VinziDorf Wien beteiligen wollen, ist dabei eine der ehrenvollen Aufgaben des Obmannes. In Vorträgen und Interviews darf ich nun unser Anliegen, die Unterstützung jener, die die Gesellschaft sonst gerne übersieht, unter die Leute bringen. Gleichzeitig habe ich die Ehre, immer wieder auch Sponsoren begrüßen zu dürfen und ihnen auch unser Dorf zu zeigen. Der Vinzenzgemeinschaft anzugehören ist kein Job, es ist eine Einstellung. Sie wurde zu meiner Einstellung.
Gleich unserem Grazer Vorbild, dem 1. VinziDorf in Graz, welches vor einigen Wochen sein 25-jähriges Bestehen gefeiert hat, hört die Arbeit jedoch nie auf. Jeder Bewohner ist sein eigenes Konzept. Dieses versuchen wir im Dorf und in allen anderen Einrichtungen der VGE-VinziWerke in Österreich umzusetzen.
Vinzi und Seneca
Ich kann mich noch ein wenig an meine Matura erinnern, welche sich heuer zum 30. Mal jährt. Unser Lateinprof. Mag. Widholz ließ uns damals einen Seneca (Auszüge aus Epistulae Morales – Epistula 47) übersetzen, in welcher er einen Freund darum bat, seinen Sklaven gut zu behandeln. Er sprach unter anderem davon, dass in jedem Menschen, ob Römer oder Sklave ein heiliger Geist wohnen würde, welcher den Unterschied zwischen den Ständen wiederum relativieren würde. Nun, so fern ist dieses Denken jenen, die sich der Unterstützung unserer Bewohner im VinziDorf gewidmet haben nicht. Wir helfen keinen Geringen, wir sind für einander da. Menschen helfen Menschen. Und das ist Vinzi.